Medinetze helfen Menschen, die ohne Krankenversicherung ärztliche Hilfe benötigen. Ziel ist eine gleichberechtigte medizinische Versorgung für alle, unabhängig vom Aufenthaltsstatus oder sonstigen Hintergründen.
Jeder Mensch hat per Gesetz das Recht auf ärztliche Behandlung. Trotzdem haben zahlreiche Menschen in Deutschland keinen ausreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung, beispielsweise Geflüchtete, Wohnungslose oder ältere, ehemals Privatversicherte. Ein großes Problem stellt hierbei die Übermittlungspflicht der Sozialämter dar. Denn wenn Geflüchtete ohne Papiere einen Behandlungsschein vom Sozialamt erhalten, droht ihnen die Abschiebung. So riskieren auch akut Erkrankte oder Verletzte, oft nicht den Arztbesuch.
Aus diesem Grund haben sich an vielen Orten Deutschlands Medizinstudierende, Menschen aus Gesundheitsberufen, aber auch ohne einen medizinischen Hintergrund in MediNetzen (oder auch Medibüros) zusammengeschlossen. Sie haben Behandler*innennetze aufgebaut, vermitteln Behandlungen und stoßen gesellschaftliche Veränderungen an.
MediNetz Jena e.V.
Das MediNetz Jena hat sich 2011 als Projekt der Fachschaft Medizin der Universität Jena gegründet und arbeitet als unabhängiger Verein. Es finanziert sich mittels Spenden und Mitgliedsbeiträgen, manchmal können auch die Patient:innen einen Teil der Kosten selbst übernehmen. Zudem diagnostizieren und behandeln viele der kooperierenden Ärzt:innen und Therapeut:innen auf eigene Rechnung.
Das MediNetz Jena hat den staatlich finanzierten Anonymen Krankenschein Thüringen e.V. ins Leben gerufen. Ein erster richtiger Schritt, denn so können medizinisch notwendige Leistungen unter Pseudonym abgerechnet werden.
Alle Interessierten sind herzlich eingeladen sich zu engagieren.
Interview mit Alexander Seltmann vom Medinetz Jena:
Was hat euch dazu bewegt das Projekt anzustoßen und was hat sich dadurch für die
Menschen in Jena verändert?
MediNetze, Medibüros oder ähnliche zivilgesellschaftliche Initiativen (ab hier: MediNetze) haben sich in vielen Städten Deutschlands seit Mitte der 1990er Jahre gegründet, ursprünglich um medizinische Hilfe für Geflüchtete zu leisten. Nach zahlreichen rassistisch motivierten Anschlägen und Übergriffen, Anfang der 1990er Jahre, wurde damals im „Asylkompromiss“ der Zugang zu politischem Asyl in Deutschland stark eingeschränkt. Die medizinische Versorgung von Asylsuchenden und Menschen, die illegalisiert in Deutschland leben, wurde dadurch erschwert. Jena kam 2011 hinzu, heute sind es 39 MediNetze in Deutschland.
Aktivismus in den Medinetzen
Wie in den meisten MediNetzen verbinden wir karitative Arbeit (die Vermittlung medizinischer Hilfe) mit Öffentlichkeitsarbeit und Aktivismus hin zu einer Gesundheitsversorgung für alle Menschen in Deutschland. In der alltäglichen Arbeit in Thüringen merkten wir schnell, dass es viele Lücken in der Gesundheitsversorgung in Deutschland gibt: betroffen sind neben den oben genannten zum Beispiel EU-Bürger:innen, ältere Privatversicherte, Haftentlassene oder Wohnungslose. Wir schrieben Gesundheitskonzepte für die Stadt Jena und lobbyierten für Gesetzesänderungen in Thüringen. Durch den Regierungswechsel zur Rot-Rot-Grünen Landesregierung in Thüringen 2014 konnten wir zwei Kernforderungen von vielen MediNetzen durchsetzen: eine elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete und den staatlich finanzierten Anonymen Krankenschein Thüringen (AKST), der Menschen ohne Krankenversicherung seit 2016 zumindest eine grundlegende Gesundheitsversorgung in Thüringen ermöglicht. Durch politische Gespräche ist inzwischen der Nutzen dieser Maßnahmen in allen demokratischen Parteien Thüringens etabliert.
Solche Erfolge empfinden wir als Empowerment, sie sind aber weder Dauerlösung, noch eine ausreichende Lösung der Ausgangslage. Viele Probleme sind noch immer drängend. Einige Ausschlüsse sind in einem nicht-staatlichem Gesundheitssystem kleinteilig und kompliziert, wie schon die vielfältige Gruppe an Betroffenen zeigt. Andere Ausschlüsse sind in Bundesgesetzen festgeschrieben, wie die grundsätzliche Minderversorgung von Menschen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder die Verknüpfung von Aufenthaltsstatus und Gesundheitsversorgung mit den Übermittlungspflichten im Aufenthaltsgesetz. Auf großer Ebene gehört zur Sicherstellung von Gesundheit auch Legalisierung (ein sicherer Aufenthaltsstatus), der Zugang zum Rechtssystem, Wohnung und Sozialleistungen. Außerdem sind die Ausschlüsse im Gesundheitssystem in Deutschland auf allen Ebenen mit klassistischer, rassistischer, und (hetero-)sexistischer Diskriminierung verbunden – hier wollen wir die eigene Position reflektieren, Missstände anprangern und gemeinsam für eine bessere Situation kämpfen.
Wie habt ihr die Behandler*innen ins Boot geholt und wie funktioniert die Finanzierung?
Auf der karitativen Seite unserer Arbeit vermitteln wir (zahn-)ärztliche und psychotherapeutische Untersuchungen und Behandlungen und haben dafür ein Behandler:innennetz in ganz Thüringen aufgebaut. Das war anfangs vor allem eine Fleißarbeit: mit mehreren Briefaktionen haben wir alle Behandler:innen in Thüringen angeschrieben und einige für uns gewinnen können. Wenn durch Fälle zusätzlich Bedarf in einer bestimmten Region oder für eine bestimmte Fachrichtung entstanden ist, haben wir für den konkreten Fall weitere Behandler:innen kontaktiert, die dann oft mit unserem Netzwerk verbunden geblieben sind. Weiterhin haben wir ein Spender:innennetz mit dem wir Behandlungen finanzieren können, einen gemeinsamen Fonds der MediNetze den man anfragen kann, und oft kommen Behandler:innen bei der Abrechnung entgegen, z.B. mit einem geringeren Behandlungssatz. Ganz klar ist aber: wir konnten und können immer nur einen kleinen Teil der nötigen Behandlungen finanzieren. Gesundheitskosten sind gerade im stationären Bereich nicht durch solche Parallelstrukturen tragbar. Selbst ein staatlich finanzierter, gedeckelter Fonds wie der AKST (Anonymer Krankenschein Thüringen) kann nicht alle Menschen versorgen, deren Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung in Deutschland vom Gesundheitssystem nicht verwirklicht wird.
Was braucht es zur Gründung eines MediNetzes?
MediNetze sind deutschlandweit sehr vielfältig aufgebaut – manche sind Studierendengruppen, andere sind Renter:innen, manche sind eher karitativ tätig, andere eher politisch. Es gibt zahlreiche kleine und große Arten, an einer Gesundheitsversorgung für alle zu arbeiten: mit einem Telefon oder einer Email-Adresse kann man eine Kontaktmöglichkeit für Menschen mit Problemen schaffen, mit einem Raum schon eine wöchentliche Sprechstunde. Für die politische Arbeit gibt es Hintergrundinformationen auf unserer gemeinsamen Website (siehe Kasten). Und über die bundesweite Vernetzung der MediNetze, sowie das jährliche Bundestreffen, gibt es Unterstützung zur Gründung der eigenen Gruppe.
Was sind die größten „Stolperfallen“?
MediNetze sind größtenteils Freiwilligenarbeit. Das ist etwas, das wir anprangern, denn wenn Deutschland seinen Pflichten zur Gesundheitsversorgung für Alle nachkommen würde, bräuchte es uns nicht. Jede Freiwilligenarbeit hat grundsätzlich einige Stolperfallen: Es gibt Phasen mit vielen aktiven Mitstreiter:innen, es gibt Phasen in denen Wissenstransfer und die Verfügbarkeit als Ansprechstelle durch fehlende Aktivität in Gefahr ist. DArüber hinaus gibt es die Gefahr der Instrumentalisierung durch den Staat. Zum Beispiel wenn die Regierungen auf uns als Hilfestellung verweisen, obwohl es ihre Verantwortung ist, das Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung in Deutschland umzusetzen. Auf ganz individueller Ebene gibt es das Risiko, sich aufzureiben und aktivistisch „auszubrennen“. Hier ist es wichtig, eine nachhaltige Form des Aktivismus zu finden. Und wir können, durch eigenes unreflektiertes Verhalten, Diskriminierung reproduzieren. Deshalb ist eine Beschäftigung mit verschiedenen Diskriminierungsformen auch so essenziell.
Wie kann ich bei euch mitmachen?
Bei uns in Jena kann jede interessierte Person zu unseren regelmäßigen Plena hinzustoßen und wird dann Schritt für Schritt in unsere Arbeit integriert. Meist fragen neue Mitglieder über die Email-Kontaktadresse vorher an und stellen sich vor. Außer dem Wunsch für eine Gesundheitsversorgung für Alle in Deutschland zu kämpfen gibt es bei uns keine Voraussetzungen mitzumachen.
Wie hat die Corona-Pandemie und vielleicht auch schon der Ukraine-Krieg eure Arbeit
verändert?
Durch die Corona-Pandemie mussten wir geplante Aktionen absagen (z.B. eine Fundraising-Party, eine Ausstellung über die Migrationsbewegung über die Balkanroute 2015). Die Umstellung auf Onlinemeetings hat wie bei vielen Vereinen die Schwierigkeiten der Freiwilligenarbeit verstärkt. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass die Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung durch die Pandemie zugenommen hat, wobei unser Kontakt mit Betroffenen durch die Pandemie-Schutzmaßnahmen eingeschränkt wurde. Durch den Ukraine-Krieg gibt es einen Fokus auf Sachspenden (z.B. Medikamente, Verbandsmaterialien), sowie in der politischen Arbeit. Denn der Staat schafft aktuell einige Grundbedingungen für Geflüchtete aus der Ukraine, die wir lange fordern und die für die Gesundheit der Menschen unerlässlich sind: Ein unkompliziertes Bleiberecht, die freie Wohnortwahl und ein Arbeitsrecht. Dies gilt aber nicht für alle Geflüchteten – unser Staat diskriminiert rassistisch nach Hautfarbe und Nationalität! Jede:r Geflüchtete sollte die gleichen, umfassenderen Rechte erhalten!
Was müsste sich ändern, damit ihr überflüssig werdet und setzt ihr euch dafür ein?
Ja, das Ziel aller MediNetze ist es, sich selbst abzuschaffen! So war das Motto des MediNetz-Bundeskongresses in Jena 2015 „Ich will hier nicht sein!“. Teil dieses Grundverständnisses ist es, dass wir kurzfristig zwar für Modelle wie den Anonymen Behandlungsschein werben – jedes Bundesland sollte ihn einführen – aber auf lange Sicht können Parallelstrukturen und Freiwilligenarbeit keine Lösung sein. Wir brauchen eine solidarische, bedarfsorientierte Gesundheitsversorgung und Sozialpolitik für Alle!
Vielen Dank für das Interview und euer Engagement!
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