die Poliklinik Veddel

die Poliklinik Veddel

Polikliniken, als solidarische Stadtteil- und Gesundheitszentren, sind eine Antwort auf die Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitssystems. Die Poliklinik Veddel ist eine konkrete Alternative zur derzeitigen ambulanten Versorgungsstruktur. Weil Profitinteressen keinen Platz haben, die Bewohner*innen des Stadtteils beteiligt sind und die gesellschaftlichen Bedingungen für Gesundheit mit gedacht werden.

Die Poliklinik Hamburg-Veddel ist ein Stadtteil-und Gesundheitszentrum, in dem verschiedene Berufsgruppen zusammen mit den Menschen im Stadtteil für die Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten eintreten. In ihrer Arbeitsweise setzt sie auf Basisdemokratie, Hierarchiearmut, Beteiligung und kollektive Lösungsstrategien. Außergewöhnlich für den ambulanten Gesundheitsbereich sind darüber hinaus multiprofessionelle Teamsitzungen und Patientenbesprechungen, die die Qualität der Versorgung deutlich verbessern.

Die Poliklinik ist Teil einer städteübergreifenden Bewegung, dem Poliklinik Syndikat.

 

Armut macht krank

Das ist nicht neu, aber leider immer noch gültig. Politische und soziale Faktoren beeinflussen die Gesundheit nachweislich stärker als die Qualität der medizinischen Versorgung allein oder individuelle Faktoren. So ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den ärmsten Stadtteilen Hamburgs, wie der Veddel, um mehr als zehn Jahre niedriger als in reichen Bezirken. Schwierige Lebensbedingungen, Existenzängste, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus und Altersarmut bedeuten erheblichen Stress und senken die Lebenserwartung.

 

In der Poliklinik Veddel: Ein Schrank mit einem weißen Arztkittel und verschiedene Erklär-Plakate.
Quelle: Bernhard Förster
Zur Poliklinik Veddel gehören deshalb:
  • Eine allgemeinärztliche Praxis
  • Eine Hebammenpraxis
  • Eine Pflegesprechstunde
  • Gesundheits- und Sozialberatung
  • Transgender-Sprechstunde
  • Mieter-helfen-Mietern-Sprechstunde
  • Psychologische Beratung
  • Gemeinwesenarbeit
  • Präventionsprojekte
  • Evaluation und Forschung

 

Interview mit Tobias Filmar

(Koordination der multiprofessionellen Zusammenarbeit der Poliklinik)

ein Foto von Tobias Filmar, vor den Toren der Poliklinik Veddel.
Quelle: Bernhard Förster
Was hat euch dazu bewegt das Projekt anzustoßen?

Die Beobachtung, dass die (ambulante) Gesundheitsversorgung vielerlei Mängel aufweist und die Motivation, ein Modellprojekt zu etablieren. Wir möchten eine Idee von Gesundheit und Versorgung vorleben und damit ins Gesundheitssystem intervenieren.

 

Was sind für euch die wichtigsten Prinzipien dieser Art der Gesundheitsversorgung? Was
wird dadurch im positiven Sinne anders?

Wir versorgen interdisziplinär unter einem Dach, gerade leider aufgrund Raummangels getrennt. Das heißt fünf verschiedene Gesundheitsdisziplinen planen und führen gemeinsam Versorgung durch (mit wöchentlichen multiprofessionellen Teamsitzungen).

Zudem haben wir eine eigene Gemeinwesenarbeit (GWA), die in die Versorgung eingebettet ist und umgekehrt. Wir versuchen alle Prozesse partizipativ zu gestalten, fördern Selbstermächtigung und betreiben Community Organizing.

 

Wie werden die Bewohner*innen an Entscheidungsprozessen beteiligt?

Innerhalb der Versorgung gibt es verschiedene Momente/Instrumente, welche die Menschen an der Planung der eigenen Versorgung teilhaben lassen. So ist die GWA in kontinuierlichem Austausch mit den Bewohner*innen und Institutionen des Stadtteils, versucht Wünsche und Bedarfe zu identifizieren und ist dahingehend ansprechbar. Anfang 2022 startete ein umfangreiches partizipatives Forschungsprojekt. Auf Grundlage dieser Ergebnisse sollen u.a. adäquate (Präventions-)Angebote geschaffen werden. Beteiligungsprozesse hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Zentrums sind bisher leider noch nicht gelungen.

 

Wo werdet ihr euren eigenen Ansprüchen nicht gerecht?
  • Die GWA soll noch ausgebaut werden, personell und hinsichtlich der Angebote. Die interne Vernetzung der ambulanten Versorgung und GWA soll verbessert werden.
  • Oft haben wir – gerade in den Praxen – weniger Zeit zur Verfügung als wir bräuchten, um unsere Ansprüche hinsichtlich Partizipation und Aufklärung (Gesundheitsverständnis, Konzept der Poliklinik) zu erfüllen.
  • Es fehlt ein Dokumentations- und Kommunikationstool.
  • Und es fehlen gesetzliche Rahmenbedingungen, die die Finanzierung erleichtern.
Wie finanziert ihr die Arbeit, die nicht von den Krankenversicherungen übernommen wird?

Mit städtische Geldern, Quartiersgeldern, Stiftungsgeldern, Förderbeiträgen und anderen Drittmitteln.

 

Wie kann die Poliklinik Veddel der Ökonomisierung des Gesundheitssystems entgegen
wirken?

Modellprojekt für ein besseres Versorgungskonzept sein, welches gemeinwohlorientiert ist. Gut gefunden werden, Nachahmer*innen finden, zu einer politischen Bewegung werden oder sich einer geeigneten anschließen. Druck ausüben und Wandel anstoßen und mitgestalten (Lobbyarbeit).

 

Könnt ihr euch mit den drei NOW-Wegen identifizieren?

Ich muss gestehen, dass ich dieses Netzwerk bislang nicht kannte. Finde die Ansätze aber super und habe auf den ersten Blick den Eindruck, dass wir mit unserer Gemeinwohlorientierung gut da rein passen.

 

Welche Rezepte für die Gründung einer Poliklinik würdet ihr gern mitgeben?

Hierfür gibt es ein Konzept, es umfasst drei Seiten. Bei Interesse bitte beim Poliklinik-Syndikat anfragen.

 

Inwieweit könnt ihr Wissen teilen?

Am ehesten und final könne wir im persönlichen Gespräch Wissen teilen, was aber entsprechend zeitaufwendig ist.

 

Was sind die größten “Stolperfallen”?
  • Nicht ausreichend für angeleitete Diskussions-, Streit- und Emotionsräume zu sorgen (z.B. Supervision).
  • Wenn Polit- und Lohnarbeit ein und dasselbe werden: Weil ich ständig aufgefordert bin, für mich zu überprüfen, welche Tätigkeit ich wo zuordne. Das sind fließende Übergänge und es gibt wenig Orientierung von außen.

 

Wie kann ich mitmachen?

Schreib eine E-Mail, dann schauen wir.

 

Hat die Coronapandemie eure Arbeit verändert?

Es gab eine kontinuierliche Überlastung und dementsprechende reduzierte Frustrationstoleranz auf beiden Seiten.

 

Wie könnte der Bereich Gesundheit/ Stadtteilarbeit in 10-20 Jahren aus eurer Sicht
aussehen?

Zwei bis fünf Polikliniken in allen größeren Städten und viele im ländlichen Raum. Weitere Vernetzungen der Polikliniken, es gibt erste innereuropäische. Vor allem in Frankreich entsteht ein Netz ähnlich versorgender Zentren.

Das Konzept der Polikliniken bestimmt den politischen Diskurs.

Vielen Dank und alles Gute für eure Arbeit!

Hier findest du einen Artikel zum Thema: Heilpraktikerleistungen für alle Menschen.

Hier ein Artikel zu den Medinetzen: Jeder Mensch hat ein Recht auf Hilfe!

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